Rezension: Ian McEwan – Am Strand

Ian McEwan habe ich schon vor einiger Zeit als einen meiner Lieblingsautoren auserkoren – ich glaube das war nach der verstörenden, aber tief beeindruckenden Lektüre von „Der Zementgarten“, und jetzt steht mein Bücherregal voller Werke von ihm, die ich stückchenweise abarbeiten werde. Und anfangen möchte ich mit „Am Strand“.

Es handelt sich um ein Kammerspiel mit Rückblicken in die Vergangenheit, in die Zeit des Kennenlernens der beiden Protagonisten. Florence und Edward lernen sich in England Anfang der 1960er Jahre kennen und lieben. Florence kommt aus einer gehobenen und arrivierten Unternehmerfamilie und ist Violonistin. Edward hat Geschichte studiert und eine Anstellung bei Florence Vater in Aussicht. Etwa ein Jahr nach ihrem Kennenlernen heiraten die beiden noch jungfräulich und stehen in der Hochzeitnacht, in einem Strandhotel an der Südküste Englands, der Herausforderung gegenüber, die Ehe zu vollziehen – was tragisch scheitert.

Edward in seiner Unerfahrenheit hat große Versagensängste und Selbstzweifel. Florence hingegen wohnt eine tiefe Abneigung gegen alles Sexuelle inne, was vermutlich aus Missbrauchserfahrungen resultiert, die jedoch in einem der Rückblicke nur angedeutet werden und zwischen den beiden Liebenden nicht zur Sprache kommen. Sie fühlt sich hin und her gerissen, möchte Edward nicht verletzen und mitmachen, aber sie kann es einfach nicht. Ihre Aversion gegenüber Sex ist so stark, dass sie Reißaus nimmt, kurz nachdem Edward von einem vorzeitigen Höhepunkt überrascht wird, den er so gefürchtet hatte.

Noch vor einer halben Minute war sie stolz darauf gewesen, ihre Gefühle im Griff zu haben und nach außen so ruhig zu wirken, doch jetzt war sie nicht mehr in der Lage, ihren tiefsitzenden Ekel zu unterdrücken … (S. 134)

Nach Florence Flucht kommt es zum Aufeinandertreffen und zur Aussprache der beiden am Strand, bei der Florence Edward ihre Liebe beteuert, die aber ohne Sex und Leidenschaft auskommen müsse. Sie versichert, dass sie Edward liebe und mit ihm den Rest ihres Lebens verbringen möchte und macht ihm das für diese Zeit sehr progressive Zugeständnis, innerhalb ihrer Ehe mit anderen Frauen intim werden zu dürfen. Dieses Angebot verletzt Edward sehr, er fühlt sich daraufhin so abgewiesen, dass er Florence als frigide beschimpft und des Betrugs bezichtigt. Florence eilt darauf zurück zum Hotel und verschwindet aus seinem Leben, die Ehe wird annulliert und beide treffen sich nicht wieder.

Auf den letzten Seiten des Buches erfährt die Leserin, dass Edward den Bruch mit seiner großen Liebe Florence im Nachhinein bedauert und das Arrangement, das Florence ihm vorgeschlagen hatte, erscheint ihm Ende der 60er Jahre, in der Ära der Flower-Power-Zeit, gar nicht mehr so abwegig.

Wer hätte eine solche Zeitenwende vorhersagen können, diese plötzliche, sorglose Sinnlichkeit, die unkomplizierte Willigkeit so vieler schöner Frauen? (S. 200)

Mir hat das Buch gefallen, es war mit 207 Seiten eine schnelle Lektüre und die kammerspielartige Inszenierung mit den eingeschobenen längeren Rückblenden hat regelmäßig für Cliffhanger zwischen den Schilderungen der Ereignisse der Hochzeitsnacht gesorgt. Da wollte man natürlich wissen, wie es weitergeht. Erstaunlicherweise sind die beiden Figuren mir eher in den Rückblenden nahbar geworden, während mir beide innerhalb der Schilderungen der Geschehnisse in der Hochzeitsnacht eher fremd blieben. So kam ich auch gar nicht erst in Versuchung, mich beim Lesen auf die Seite einer der beiden Parteien zu schlagen, was schön ist, da man bei dieser Geschichte von einer gewissen Perspektivenoffenheit extrem profitiert.